Dienstag, 29. November 2016

Songlines im 21. Jahrhundert

Der Mensch ist eine wandernde Spezies. Erst die letzten paar tausend Jahre ist er domestiziert worden (oder er hat sich selbst...) Der Körper ist freilich in lächerlichen 100, 200 Generationen noch nicht nachgekommen. Bruce Chatwin singt in seinen Traumpfaden ein Hohes Lied auf die Rastlosigkeit, die Stärke des Beweglichen vor dem Hintergrund von Australien und seiner Ureinwohner zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Der gute Mann hat sicher Recht, aber dennoch muß man den Begriff des Reisens reinterpretieren. Denn heute ist Reisen gleich Urlaub gleich Unterhaltung gleich Konsum gleich einem Element einer globalen Subkultur, gleichauf mit Kleidung, Einrichtung und all den anderen Zeichen, mit denen sich der Einheitsmensch durch Auswahl als etwas Individuelles fühlen soll. Für Reisen im Sinn von Chatwin ist heute keine Zeit mehr, und zudem stammt Travel von travail, lernen wir in diesem Buch, was soviel heißt wie Arbeit, Strapazen, Mühsal, Leiden. In einem Prospekt für die aktuellen Reisetrends machten sich solche Eigenschaften gar nicht gut aus.
Und die Songlines heute? Sind das jene kollektiven Erfahrungen, auf die uns die digitale Medienmaschinerie einlullen will? Denn wie lernt der Aborigine seine Songlines? Hören und Nachsingen. Vielleicht sollte das zu Fuß gehen wieder en vogue werden, Zeit zum Reden und Nachdenken, und für die eigenen Songlines des Lebens.
Chatwins Roman mag für mich, der gerne Handlungen oder Stimmungen in Büchern vorfindet, eher wie ein riesiges Häppchenbuffet wirken - und von Häppchen wird man niemals satt - aber zum Nachdenken regen die vielen Fundorte allemal an.

Bruce Chatwin: Traumpfade. Sz-Bibl.Bd.37

Montag, 21. November 2016

1:0 für den Film durch Hader

Das hat mich gewundert. Oder auch nicht. Weil warum. Den Film "Der Knochenmann" kenne ich, schon zwei Mal gesehen, und das Buch ist mir jetzt untergekommen. Also, genau gesagt, auf einem Flohmarkt wurden drei Wolf Haas Bücher feil geboten, und um zu verhindern, daß sie in falsche Hände gelangen, habe ich gleich alle drei erworben, obwohl ich eines davon schon gelesen hatte. Die Lektüre des Knochenmann wies dann schon anständig Abweichungen auf zum Film. Das ist an sich nichts Neues, aber diesmal ist der Film auch von der Handlung her besser. Das Buch gurkt ein bißchen zu sehr herum, und die Figuren wirken oberflächlich und blaß. Aber der Film lebt von unerreichten Bildern, düster, grimmig, und von ebensolchen Schaustellern - nicht nur, aber eben auch, der Hader. Und der Schmäh im Buch, vielleicht ist man nach ein paar Brenner Büchern auch schon abgebrüht, kann mich diesmal auch nicht durchwegs vom Hocker reißen. Die Anknüpfungen an Vergangenes, z.B. Aktenzeichen XY, kommen mir zu platt daher. Freilich, alles eine gefärbte Wahrnehmung von dem, was man schon kennt vor der Lektüre. Aber für Brenner-Anfänger 1a.

Sonntag, 6. November 2016

Der Pinocchio Effekt des amerikanischen Traumes

Bei der Lektüre von Kafkas Amerika drängte sich mir dasselbe Gefühl auf wie beim Schauen von Pinocchio seinerzeit. Aussichtslosigkeit, Ungerechtigkeit, was gut beginnt, endet noch böser - und ständig unter die Räder kommen, obwohl man guten Glaubens handelt, während andere, weit weniger redliche, Erfolg haben. Am abruptesten kommt die erste Wendung bei Kafka (der Onkel aus Amerika verstößt ihn), aber am intensivsten ist der Rauswurf aus dem Hotel Occidental. Man will garnicht mehr weiterlesen, weil es immer noch ärger kommt, als befürchtet. Kafka scheint darin eine Meisterschaft gefunden zu haben, denn das Adjektiv "kafkaesk" wird nicht selten verwendet, auch hundert Jahre später. Der Schluß ist dann schon mehr absurd und schräg, aber insgesamt ein wirklich herausragendes Werk, nicht umsonst in der SZ-Serie.

Franz Kafka: Amerika. SZ-Bibl. Bd.36