Freitag, 8. Januar 2010

Null und nichtig

Was haben wir, werden wir dann 2073 sagen, nicht alles überlebt: Tschernobyl, Irakkriege, den Zusammenbruch des Kommunismus, die Y2K Umstellung und was-weiß-ich. Dazu gehören dann auch die sogenannten "Nullerjahre", das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. In Zeitung und Radio gab es Rezensionen von Büchern (siehe unten), und da will ich nicht hintanstehen und ein paar der Trends herausgreifen und kontrollieren, ob ich - ganz Bösemensch (im Sinne des Gutmenschkonzepts) - eh überall nicht dabei war, ob alles an mir vorbeigezogen ist. Schon geht´s los:

Rastlosigkeit, Mobilität, Laptop, Smartphone, Rollkoffer
Um Trends auszumachen, lohnt auch der Blick rückwärts, der Vergleich sozusagen mit den 1990ern. Und Mobilität mit seinen Ausprägungen, auch die Vermischung von Arbeit und Freizeit, hat uns voll erreicht. Schmähtandler eher weniger, aber doch auch. Zwar nicht das rumhocken allerorts mit dem Laptop und garviele Reisen, aber ein Smartphone wurde mir beigestellt, und einen Rollkoffer besitze ich. Für meine Altersklasse hat mich der Trend aber nur mäßig getroffen.

Coffee to go, Latte Macchiato
Ekelhaft - entschuldigung -, aber das ist das erste Wort dafür, das mir einfällt. Gerne ließ sich Wien von den Türken belagern, um an Kaffee zu kommen und eine ausgeprägte, fein nuancierte Kaffeekultur zu entwickeln. Daß dann aber Starbucks (und Co.) kommt und uns was vom Kaffee erzählen will, das trifft mich schmerzhaft in meiner Liebe zum Kaffee. Aber ob Starbucks sehr erfolgreich war, weiß man nicht. Stand ihnen am Ende das Wasser schon bis zum Halse?
Schmähtandler ist kein Kaffeefetischist, aber diese vermilchten Karamelverwirrungen: da müßte die Not schon groß sein.

globale Vernetzung
Durch Internet hat sich dieser Bereich stark gewandelt. In den 90ern war das TIME Magazine das einzige Internationale, was zum regelmäßigen Medienmenü gehörte. Trotzdem gehört Schmähtandler nicht zu denen, welche der hiesigen Tristesse entfliehen wollen, indem sie sagen: überall ist es besser als hier.

iPod, iPhone
Schon genug darüber gelästert. Beides habe ich nicht, wenngleich doch einen mp3-Player und einen (Firmen-)Blackberry. Die Zeitung schreibt gar beigeistert, der iPod sei auch durch sein stoffliches Erscheinungsbild (Gehäuse etc.) so erfolgreich, drehe man am Navi-Rad, sei es "als würde man eine Katze hinter dem Ohr streicheln". Nun ja, wie heißt nochmal die Liebe zu stofflichen Dingen? Fetisch?

Flatrate
Von All-you-can-eat Aktionen und insb. All-you-can-drink Parties ist ja nicht viel zu halten. Als ehemaliger Mitarbeiter in einem Betrieb, der sich auch mit Flatrate beschäftigt, weiß ich sicher zu sagen: gewinnen tut am Ende immer der Anbieter. Falls einer zuviel sauft, saufen eben drei andere zu wenig. Und man verkauft ihnen den billigsten Fusel. Etwas das keinen Preis hat, ist auch nichts wert. Selbst hat man irgendwann mitte des Jahrzehnts auch seine Flatrate bekommen, die von Aon Speed (Breitbandinternet).

Bionade
Sagt mir garnichts, weiß nicht, wie die in der Zeitung darauf kommen. Aber der Kommentar dazu läßt es als Gutmenschgetränk vermuten. Man fühle sich besser, es sei "authentisch-abseitig", war zu Beginn als "alternativ" einzustufen und damit non-plus-ultra für Gutmenschen.

Facebook
Plötzlich kennt man einen Haufen Menschen, die per Notation im FB auch noch "Freunde" sein sollen, womit sich Schmähtandler schwer tut, der per Definition "koani Freind´" hot. Aber ab einer gewissen Menge stellt sicher zweierlei ein: man hat ein schönes Publikum, dem man seine verrückten Ideen "verkaufen" kann. Und: man kann sehr viel über die Leute lernen. Die Gefahr dabei ist, daß das 2. Leben bald das erste ausbremst und man in realiter garnicht mehr kann, oder FB-Manier im echten Leben anwendet: "Gefällt mir" oder "Teilen". Selbst ist man auch bei FB, hat sogar zwei Identitäten, ums nicht zu einfach werden zu lassen.

Speeddating
"Speed" könnte überhaups eine Vorsilbe der Dekade sein. Alles muß schnell gehen, für nichts nimmt sich jemand Zeit. Wie soll man auch? Wenn der Partner regelmäßig gewechselt wird, da kann man in das Werben, in das Verliebtsein nicht mehr viel Zeit investieren. Ginge sich garnicht aus, überschneide sich ja. Schmähtandler fordert im Sinne der N.R. wieder zurück, daß man sich monate- und jahrelang um die Angebetete bemüht, Unglaubliches aufführt, unternimmt, sich einfallen läßt, daß sich die Angebetete ziert, aber charmant und liebenswürdig - und beide dieses schöne Spiel, die Tête-à-Têtes, Nähe und Distanz, Höhen und Tiefen voll fühlen und genießen.

Blogs
Zwischenstadium, das gerade für jene sinnvoll ist, die etwas zu sagen haben, aber technisch keine Homepage hinbringen. Konnte aber zu keiner Breitenbewegung werden; wer hat heute schon noch was zu sagen, außer "Gefällt mir"? Schmähtandler hat gleich mehrere Blogs, gleichwohl der bereits vor Beginn der Dekade eine Homepage hatte.

Alte Menschen: Wii Sports, Viagra, Nordic Walking, Anti-Aging
Alt werden ist wohl der Antitrend schlechthin der Nullerjahre. Alte Menschen bleiben also jung, mehr oder weniger peinlich, bis sie von der Realität eingeholt werden. Das geht so weit, daß sogar Schmähtandlers Vatern Inlineskates fährt. Der Unterschied ist aber, daß diejenigen, die in den Nullerjahren schon alt sind, dazu stehen und sich nur nicht ganz so verhalten, wie echte Alte.

Prolongierte Adoleszenz, Jugendzwang
Dagegen wollen junge Erwachsene ihre Jugend verlängern, zelebrieren, abfeiern, solange es nur irgendwie geht. Und da gibt es kaum Schranken (die Alten brechen im Gegensatz dann, hart gesagt, irgendwann zusammen). Einzig bei Frauen tickt dann so ab Mitte dreißig etwas. Aber auch das ist längst kein Grund mehr. Es herrscht geradezu ein Zwang vor zum Jungsein. Das Erwachsensein wird auf später verschoben, aber da fürchte ich fast, daß es sich mit dem physischen Altsein überschneiden wird. Plötzlich ist das Leben aus, dabei wollte man doch gerade erst... Schmähtandler ist eher das Gegenteil, er ist seiner Zeit voraus, älter als er laut Zulassungsschein ist.

Karaoke, Rock Guitar Hero
Just 1999 hat Schmähtandler erstmals bei einer Privatparty eine Karaokemaschine gesehen. Die Weiterentwicklung sind Spielekonsolen und ihr Zubehör, mit denen man Gitarre spielen kann, Drums oder Bass, was auch immer. Paßt gut in die Grundprämisse der Nullerjahre, nämlich Speed. Ein Musikinstrument zu lernen braucht sehr viel Zeit, einer müßte sich comitten und könnte nicht mehr ALLES machen. Es gäbe Opportunitätskosten, andere Trendaktivitäten (zB. Mountainbike, indoor Klettern) müßten aufgegeben werden. Und das geht ja wohl nicht, wo eine der Grundängste des Jahrzehnts ist, etwas zu verpassen. Alles wird virutell simuliert: Freunde, Sport, Geschlechtsverkehr - warum nicht auch Musik machen?

Google, YouTube, Napster, Wiki & Co.
Wie hat man das alles in den 1990er Jahren gemacht? Etwas nicht gewußt? In den Büchern blättern, jemanden fragen. Musik jetzt und sofort? Ins Geschäft gehen, bestellen, abholen. Filme? VHS, warten, bis sie im Fernsehen laufen, mehr sage ich nicht. Die Frage bleibt: was tun wir mit der gewonnenen Zeit, die wir vorher aufwenden mußten, um uns Inhalte zu besorgen? Richtig: noch mehr Inhalte konsumieren, noch flacher konsumieren. Schmähtandler ist in Teilen auch vom Sammelwahn (Zeitungsseiten, Ö1-Downloads) betroffen, versucht aber mittlerweile, Inhalte bewußt zu konsumieren.

Wärmepilze (Terrassenbeheizung)
Wohl der dümmste, der allerdümmste Trend, den es gibt. Gasbetriebene Heizlampen heizen offene Bereiche (Gastgärten, Terrassen), nur um die Freiluftsaison künstlich zu verlängern. Unglaublich.

Verunsicherung (Terror, Klimawandel, Börsenkrise, Globalisierung)
Ein schlaues Vorgehen der herrschenden Elite: zuerst läßt man dem Proletariat (zu dem sich auch Schmähtandler zählt) einen bescheidenen Wohlstand zu, den zu verlieren es sich dann fürchtet. Und mit dieser Angst und einer geeigneten Medienberichterstattung werden Eingriffe und Maßnahmen gerechtfertigt (z.B. "Kampf gegen den Terror"), die unerhört sind. Aber man gewöhnt sich an alles, oder wie ich immer sage: der Mensch reagiert nur auf die 1. Ableitung. In Ostösterreich tun wir das dann mit einem "Jo-jo" ab. Bestes Beispiel: was bleibt von 9/11? Jeder erzählt gerne, was er gerade an jenem Tag getan, wo er es zuerst erfahren hat, weit weg von Blut und Terroristen, von einstürzenden Hochhäusern.

Wellness, Yoga, grüner Tee, Selbstfindung
Gesundheit, die krank macht, so (oder so ähnlich) war unlängst der Titel einer Diskussionssendung. Das Abschalten vom Streß auf Kommando, der Befehl: jetzt entspanne Dich, los! Erhole Dich! SOFORT! Das kann mehr Streß sein, als ob man es sanft angeht. Daneben bringt es mich nicht um, wenn ich hie und da einen hebe. Genausowenig rettet es mich, wenn ich 51 Wochen im Jahr alles erdenklich Schlechte tue und eine Woche "wellnesse". Die Frage ist wieder, ob uns der Speed umbringt. "Entschleunigung" ist ebenfalls ein Wort, das dahingehend gerne gebraucht wird. Der Antitrend zu Wellness ist nichts tun. Nur gibt es dafür keine Werbung, weil niemand daran verdient. Selbst ist man Ende der 90er und Anfang des Jahrtausends diesen Trends auch leicht anheim gefallen. Aber man lernt ja aus sich selbst dazu (durch nichts tun).

Castingshows
Wieviel davon haben Sie ausgehalten? Starmania Staffel I? Ja, ich auch. Staffel II? Wow. Staffel XXXMVII? Woooow? Österreich sucht Top Model, Superstar, Musical Star? Mein Favorit: Österreich such den besten Gutmenschen. Dem Anmeldeformular legen Sie entweder (a) iPod Rechnung oder (b) iPhone Rechnung bei.

Billigflieger
Nette Sache, kleiner Schönheitsfehler mit SkyEurope. Schmähtandler hat in der gesamten Dekade (2000 bis 2009) 2 (in Worten: zwei) Flugreisen unternommen. Da nimmt man auch gerne den teuren Flug ;)

Kochen als Event, Kochsendungen, Jamie Oliver
Hierüber könnte ich mich stundenlang auslassen (auch schon beim Gutmensch Konzept getan), jedenfalls erleben wir hier auch Extremismus. Einerseits wird für das Eventkochen stundenlang keine Mühe gescheut (geschweige denn Kosten), andererseits fressen wir den Rest der Woche Müll, Fertigprodukte und Künstliches in uns hinein. Dem Gesellschaftswandel fällt auch die traditionelle Kochkultur anheim. Selbst meinte man auch in den 90ern, ausschließlich spanisch, mexikanisch, französisch, italienisch, asiatisch und griechisch kochen zu müssen. Jetzt erfreut man sich auch wieder an Rahmsuppe, Apfelstrudel und Gulasch.

Als Fazit könnte ich sagen: ja, ich habe allerhand von diesen Dingen mitgemacht. Besonders zu Beginn des Jahrtausends, bis dann eben der Sinneswandel kam. Ist ja auch nicht alles schlecht (bzw. so schlecht, wie ein rückwärts Gewandter das sieht). Nun testen Sie sich: welche Trends haben sie angenommen? Welche für sich "ver- oder hingebogen"? Welche fehlen Ihnen in der Auflistung? Kommentare gerne gefragt.

"Es begann in einer Katastrophe und wird in einer Krise enden"
"Sagen Sie nicht, sie wären nicht dabei gewesen"

Quellen:
  • ORF Radio Ö1, "Kontext" vom 18.12.2009 mit Verweis auf: Gillies, Judith-Maria (2009): Unsere Nullerjahre: Das Jahrzehnt der Bagels, Blogs und Billigflieger.
  • Moorstedt/ Schrenk (2009): Der Kult der Nullerjahre. in: DerStandard, Ausgabe 2.1.2010

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