Freitag, 16. Oktober 2020

Die Dynamik am A. der Welt

Ein gottverlassenes ein Kaff, denn Christus kam nur bis Eboli, nicht bist Gagliano, mit eigenen Spielregeln, mit seinen Bewohnern, die, zu einem Gutteil Bauern, alles ertragen (manchmal flippen sie halt kurz aus) und wissen, dass der Staat ein Übel ist - so ein Kaff wird gerade jetzt in der Corona Krise wieder interessant. Weil die Städter sind drauf gekommen, dass einem in der Stadt, so alleine in der bescheidenen Wohnhöhle vor dem Bildschirm (oder wiederum in der überfüllten Wohnhöhle, alle vor dem Bildschirm) doch irgend etwas abgeht. Und da kommt die Idee mit dem Homeoffice am A. der Welt, wo es billig Immobilien gibt und ganz viel Landschaft. Irgendwann überschreitet der Städter denn die Jägerzaungrenzen seines neu erworbenen Domizils und trifft auf die Ureinwohner. Wenn der Neo-xyz'ler (xyz=Name des Kaffs) dann gesteht, ein Städter (Wiener, beispielsweise) zu sein, ist er schon in einer Schublade. Er sollte sich deshalb schleunigst mit der gewachsenen Dynamik des Kaffs vertraut machen. Das ist aber garnicht so einfach, denn alle lachen ihm entgegen, und halten mit den ortsüblichen Querelen hinter dem Berg. Aber der Städter kann, mit etwas Geduld, länger aushalten mit beobachten, als die Ortsansässigen mit der Fassade. Güstig wäre, wenn der Städter einen einheimischen Einsager hätte. Dazu der Tipp: Vereine! Vereine sind am Land der Kitt, der nicht nur die Fenster, sondern alles zusammenhält. Blicken wir zurück zu Carlo Levi, dann besteht die Dynamik seines Kaffs, Gagliano, in uraltem Hass, in ausgeprägtem Misstrauen gegen den Staat und in einem Kleinbürgertum, das "eine körperlich und moralisch verkommenen Klasse, die unfähig ist, ihre Aufgabe zu erfüllen, und nur von kleinem Raub und der entarteten Tradition eines Feudalrechtes lebt" (Levi, S.247) darstellt. Heute vermischen sich moderne Einflüsse (kommen digital vom Himmel und durchs Glasfaserkabel) mit den ungeschriebenen Gesetzen der Tradition und des Lebensgefühls Einheimischen auf teils skurrile Weise. Die Frage ist, ob langfristig, getriggert durch Zu- und Abwanderung und den digitalen Einfluss, dieses Lebensgefühl verloren geht und die Kaffs ihre eigene Dynamik verlieren, stattdessen nur mehr Dependance der global vereinheitlichten Großstadte sind. Dann muss man wirklich von den Bäumen abbeißen, denn Eigendynamik gibt es dann keine mehr. Aber vermutlich kommt, angefeuert durch die Coronakrise, ein neuer Regionalismus, einhergehend mit mehr ländlichem Selbstbewusstsein.

Carlo Levi: Christus kam nur bis Eboli. Sz-Bibliothek Bd.61