Dienstag, 28. Juli 2020

Die Wahrheit hört man nicht so gern

Schon wenn man nur die offensichtliche Wahrheit vor Augen gehalten bekommt, hört man das (oft) nicht gern. Was aber, wenn die Wahrheit nur eine von vielen ist oder eine, die erst zur solchen wird und vorerst nur eine Prognose ist. So ergeht es der Kassandra. Ihre Wahrheit der Vorausschau hört niemand gern, und noch weniger glaubt man ihr. Jetzt, in Corona Zeiten, machen Politiker, "Wissenschafter" und die Medien die "Wahrheit". (Übrigens: absichtlich nicht gegendert, denn gegenwärtig relevante Politikerinnen sind ja noch rarer gesät als Wissenschaftlerinnen). Und im krassen Gegensatz zu Kassandra können die Blödsinn labern ohne Ende, sie werden für ihre Fehler nicht beanstandet, sondern man wartet schon auf die nächsten "Wahrheiten". Als hätte Apollon als Fluch ausgesprochen: jede und jeder wird Deine Weissagungen glauben, und sind sie falsch, dann wird das ruck-zuck vergessen, und die neuen Weissagungen werden geglaubt. Nun werden dann aufgrund dieser seherischen Fähigkeiten, gesützt von wenig geschickt verdrehten Zahlenspiralen, Maßnahmen getroffen und den Menschen mit der Maske das Maul gestopft. Aber weil sie auf der Wahrheit basieren, müssen diese ja wohl richtig sein. Und so können wir Troja retten.

Christa Wolf: Kassandra.
Sz-Bibl.Band 59

PS: Übrigens auch ein grandioses Buch, das zeigt, wie lächerlich und verabscheuungswürdig sich Heldensagen ausnehmen, wenn man nur die Perspektive wechselt.

Sonntag, 26. Juli 2020

Ausgewogen, nicht ausufernd

Die Idee, einen Krimi in eine bestimmte Lokation und Zeit zu versetzen, ist nichts Neues. Dass man ein sehr kleines Zeitfenster in einer dunklen Zeit wählt, macht die "Spielregeln" klarer und spannender. Aber wenn dann ein spezieller Kunstgriff (der nicht nur Isaak überraschte) gewählt wird, womit zwei Handlungsströme verschmelzen, kann das schon sehr fesselnd werden. Ausgewogen ist das Buch auch noch, denn mit keinem Aspekt wird länger herumgeritten, als es dem Gefühl des Lesers, der Leserin gut tut. (Manche Autoren sind so stolz auf ihre Idee, dass sie sie überstrapazieren. Das ist hier nicht der Fall.) Auch schwingt ein wenig von "Die Feder besiegt das Schwert" mit, wenn viele Zitate aus der Literatur Isaak einfallen und ihm weiterhelfen. Schöne Unterhaltungsliteratur.

Alex Beer: Unter Wölfen.

Mittwoch, 22. Juli 2020

Die S-Kurve kann eh alles

Kurven spielen in der Erotik klarerweise eine Rolle. Aber diese Kurve? Das hätte man sich wohl nicht gedacht. Hier eine S-Kurve nach dem Schema:
1 K + C e -rx

Wenn wir nun als Inputgröße den Stimulus hernehmen und als Outputgröße die erzielte Wirkung, dann könnte man bei Vina Jackson feststellen, dass der Reiz von Beginn an langsam, aber kontinuierlich gesteigert wird, was dann aber rasant zunimmt und sich dann selbst überholt. Und interessant: Obwohl es dann sehr explizit und ausufernd wird, nimmt tatsächlich die Wirkung ab! Denn offenbar ist der Mensch so gepolt, dass er auf die Veränderung reagiert, spricht die Steigung der Kurve bzw. erst Ableitung, und dann schau das so aus (die grüne Linie):
Und da sehen wir, dass in Wirklichkeit die Wirkung bei Überreizung wieder nachlässt. Offenbar zeigt uns das ein Geheimnis, dass es einen "günstigen" Bereich gibt, um große Wirkung zu erzielen, der aber nicht automatisch in voller Inputleistung liegt. Hierin liegt also die Kunst.

Vina Jackson: 80 days.

Jeder Irving ist der vierte

Ich habe schon länger nichts von John Irving gelesen und jetzt zu "Die vierte Hand" gegriffen. Schon nach ein paar Seiten war ich wieder in eine der skurrilen Welten von Irving eingetaucht. Er verkauft sehr geschickt mit diesen, teils absurden Charaktären und ihren Geschichten, die auch noch "zufällig" zusammentreffen tiefgreifende Themen. Trennungsschmerz etwa, der auf vielfältige Art erlebt werden kann, körperlich, wenn einem jemand die Hand abbeißt. Aber auch seelisch, durch Verlust, Trennung, räumliche Distanz mit Unsicherheit. Wenn dann die Trennung überkommen wird, dann auf Irving'sche Art. Die dritte Hand, die vierte Hand. Am Ende zieht sich all das ein wenig hin und die Läuterung von Wallingford braucht Zeit und Seiten. Insgesamt ein heiteres, gut geschriebenes Lesevergnügen.

John Irving: Die vierte Hand.

Sonntag, 5. Juli 2020

Immer nur das Richtige machen reicht auch nicht aus

Ist das ein übler Zug, wenn sich eine Person A aufopfert, alles macht, um eine andere Person B voranzubringen, glücklich zu machen, aber im Endeffekt entscheidet sich die Person B, nachdem der Erfolg durchgeschlagen hat, für eine Person C (mit anderen Qualitäten, Geld, Aussehen, Status). Wäre es als Belohnung nicht angemessen, wenn Clara (A) den Dirigenten Edwin (B) bekommen hätte? Andererseits macht Clara das ja freiwillig, und der Preis ist nicht vorweg ausgemacht. Das ist freilich nur eine Erzählung von Urs Widmer. Aber kommt uns dieses Schema nicht doch bekannt vor? Warum kommen solche fleißigen Mädchen, solche guten Zuhörer und Tröstermänner meist doch nicht zum Zug? (Man hört hier am Lande immer die Mütter und potentiellen Schwiermütter sagen: ich versteh nicht, warum der keine bekommt, der is ja so kommod. Und fleißig.

Vielleicht ist es, weil sie zu einfach zu haben sind. Was nichts (keinen Aufwand) kostet, ist nichts wert. Aber vielleicht bequem. Edwin war nicht bequem (sonst hätte er sich das anfängliche Theater als Dirigent nicht angetan). Er war zielstrebig und hat die Millionenerbin gewählt. Clara hat das nie überwunden.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter
Sz-Bibl.Band 58