Sonntag, 13. Juni 2021

Magic Cleaning auch im Kopf?

Ich mag Ratgeberliteratur nicht besonders. Es ist kochrezeptartig und oft nach dem selben Strickmuster geschrieben ("Glaubenssätze,...") Warum ich z.B. Magic Cleaning gelesen habe? Es war in der Bibliothek meines Vertrauens vorrätig, ich war neugierig und die 40 Cent Gebühren kann man schon riskieren. Außerdem kann man auch ex negativo lernen. Ist aber hier garnicht notwendig. Frau Kondo ist ein bißchen (aufräum-)verrückt, und ein bißchen verrückt schadet bekanntlich nicht. Ich habe die Methode noch nicht ausprobiert, aber zumindest in Ansätzen werde ich das noch. Jetzt könnte man die Methode auch umlegen auf unser Kopfleben, auf unser soziales Leben. Ein bißchen wie die "Beziehungsklärerin". Mal sehen:

Aufräumfeiertag: wir sortieren unser Leben nicht täglich neu, sondern machen einen Ratzebutz-Tag. Dazu müssen wir alle Personen versammeln, die wir kennen. Wir beginnen mit der einfachsten Kategorie. Bekannte von Früher (aus vergangenen Kontexten), die wir ohnehin nicht oft sehen (vgl. saisonale Kleidung). Jeden Bekannten müssen wir berühren und feststellen, ob er uns glücklich macht. Falls nein, bedanken wir uns bei ihm (falls es eine Fehlentscheidung war, ihn überhaupt als Bekannten zu haben, dann bedanken wir uns, dass wir durch ihn lernen durften, welchen Charakter wir nicht mögen). Danach sortieren wir ihn aus (bedeutet heuzutage: Löschen aus dem Handyadressbuch sowie aus allen social Media Kanälen). Problem: was, wenn der eine oder andere Bekannte nicht kommen will (vielleicht hat er uns auch schon aussortiert). Frau Kondo weiß hier nicht weiter, aber vielleicht schauen wir uns (gemeinsame) Fotos an, lesen SMS und Chats und entscheiden dann. Schwieriger wird es mit der Kategorie "Arbeitskollegen". Die wird man schon nicht mehr so leicht los, notfalls Jobwechsel? Richtig schwer sind Nachbarn auszusortieren. Pflanzen wir da eine meterhohe Hecke? Zu bedenken ist auch, warum wir den Kontakt aufrecht erhalten. Liegt es daran, dass wir die Vergangenheit nicht loslassen können? Oder ist es Zukunftsangst: vielleicht brauchen wir den ja noch irgendwann mal Frau Kondo: "Irgendwann kommt nie". Mörderisch schwierig wird die Verwandtschaft. Eigentlich kann man sie nur schwer ganz los werden, aber es geht, sofern man bei Zwangstreffen den anderen ignoriert. Frau Kondo warnt auch davor, dass man nicht mehr benötigte Dinge jemanden aus der Verwandtschaft schenkt, nur damit man es nicht selbst wegwerfen muss. Sprich, die Schwester soll den Kontakt halten, falls ich einmal etwas brauche. Geht garnicht, sagt die Kondo. Wir sehen: Magic Cleaning räumt auch Dein Leben auf, und das Instagram-Wischen dauert nur mehr sehr kurz. Ach so, jetzt weißt Du nicht, was Du mit der gewonnenen Zeit anfängst? Oh nein, nicht, sag nicht, neue Bekanntschaften... Das ist ja, wie wenn die Kondo mit der Shoppen geht, nachdem sie Dein halbes Hab und Gut auf den Müll geschmissen hat. Obacht!

 Marie Kondo: Magic Cleaning.

 


Samstag, 12. Juni 2021

Der lineare Abstieg

 Eine lineare Handlung in einem Buch, wo es ohne Plot-Twists und allen übrigen kleinen Tricks, die heute so en vogue sind (auch der Plot-Twist vom Plot-Twist) hergeht, stellt man sich langweilig vor. Aber die Wahrheit liegt da viel näher dran, als an konstruierten Achterbahnfahrten, an Auf- und Abs. Auch ohne die Lektüre von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" weiß man schon ungefähr, in welche Richtung (bergag) es geht, wenn man mal den Drogen zuspricht. Aber der gnadenlose Verlauf, den es nimmt, wenn man erst einmal auf H. eingelenkt hat, ist schon monströs. Es geht in schrittweise, aber monoton abwärts. Die Stadien kennt man von der Scene, auch den Entzug, der aber nur eine Plattform, wo es eben geht, ist, nie geht es jemals bergauf. In der Scene ist man dann auch zu Hause, obwohl es nicht so richtig harmonisch abgeht, aber was hat man sonst? Wo endet der lineare Abstieg? Der endet lange nicht, denn der Mensch hält viel aus, und er fällt auch tief. Jedes Mittel ist recht, um die vierzig Mark für ein halbes Halbes zu beschaffen. Für manche endet es mit dem Goldenen. Andere wursteln sich durch, kommen aber nie mehr richtig los.

Jetzt ist die H.-Welle schon eine zeitlang her, und man liest nicht mehr täglich darüber. Aber sind die Leute wirklich psychisch robuster geworden? Wohl kaum, aber die Mittel wurden weiterentwickelt, Psychopharmaka machen einen längst nicht so schnell alle wie H. Und, ist das besser? Ja.

Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo