Sonntag, 22. Dezember 2019

Lieber spezifisch

Wie entwickelt sich eine Person weiter durch andere Personen? Welche Gesetze gelten für den Astrologen, den Epileptiker und die anderen? Könnte man von Sozialisation reden? Oder findet Marie (M) mit Hilfe der Männer durch die Jahre zu sich selbst? Finden wir Menschen eher dann anziehend, wenn sie Prinzipien vertreten, möglichst energisch, oder "für alles offen" sind? Oder bastelt man sich aus den "Gesetzen" anderer unbewusst seine eigenen, beides, positiv wie negativ (so mache ich es bestimmt nicht!) Ich habe ja früher gesagt, wem alles gefällt, dem gefällt nichts. Abgeleitet: wem alles recht ist, dem ist in Wirklichkeit nichts recht. M hat in den sechs Jahren auf kuriose Weise, am Ende eher schon auf bedenkliche, ihren Weg und ihre eigenen Gesetze "gefunden" (konstruiert oder nur entdeckt?) Jedenfalls sind Leute mit Prinzipien, seien sie noch so verrückt, immer noch besser als Weichlinge, die für alles zu haben sind, Unspezifische also.

Connie Palmen: Die Gesetze
(Eine Stadt ein Buch 2019)

Donnerstag, 26. September 2019

Ein Szenario für das bittere Ende

Ich glaube, was bei Water (Paolo Bacigalupi) so erschreckend ist, ist die Tatsache, dass Amerika als Föderation seinen Zusammenhalt verliert, dass die Grenzen zwischen Bundesstaaten das werden, was jetzt die Grenze zu Mexiko ist. Mit dem Colorado als Grenzfluss so wie jetzt vielleicht der Rio Grande. Und "Kalis", die nach Phoenix fahren, um einen drauf zu machen. Und natürlich geht es um Geld und um Bürokratie und um Rassismus bzw. Diskriminierung (Texaner, Zoner). Wir haben bekanntlich eine Klimakrise (wird nur noch von vereinzelten Unverbesserlichen geleugnet), und auch ohne Fachwissen scheint es plausibel, dass der Südwesten der USA mit seiner Wasserversorgung keine einfache Aufgabe zu bewältigen hat. Interessant ist die im Buch dargestellte Vermischung aus Gewalt (Milizen) und Juristenkram (Altverträge). Aber ganz unmöglich ist das nicht. Sieht man nach Afrika und dann Europa, dann haben wir auch Gewalt und Flucht, auf der anderen Seite Bürokratie und Verträge gleichzeitig nebeneinander. Hier würde sich Jean Ziegler erneut aufregen. Denn bevor die benachteiligten Staaten weltweit einigermaßen aufholen können, werden sie vom Klimawandel und den Kampf und Ressourcen aus der Bahn geworfen. Daher werden die Auswirkungen des Klimawandels (im Ausmaß, je nach dem, was wir jetzt noch an Maßnahmen schaffen)  mit unterschiedlichem Tempo daherkommen. Die einen erwischt es zuerst, das sind die ohne Geld und in kritischen Regionen. Die mit Geld in kritischen Regionen werden länger durchhalten. Die mit Geld in unkritischen Regionen am längsten. Aber die Fluchtbewegungen und die resultierende Wirtschaftskrise (öha, da brechen uns die Konsumenten weg, wer kauft jetzt all den zukünftigen Müll) wird früher oder später alle einholen. Eine Insel der Seligen ist dann nicht auszumachen, und wenn, quillt sie bald über.

In ein paar Tagen sind in Österreich wichtige Wahlen. Jede und jeder unter vierzig kann jetzt seine eigene Zukunft mitbestimmen, und zwar mehr denn je. Wieviel Klimawandel darf es sein, Gnä Herr, Gnä Frau?

Paolo Bacigalupi: Water

Mittwoch, 18. September 2019

Der Kommissär hat´s schwer

Also einige Autor_Innen und Drehbuchschreiber_Innen gehen ja hart mit ihren Kommissaren um. Harry Hole muss bei Nesbo aber schon besonders viel leiden. Das Buch ist jetzt auch schon wieder fast 15 Jahre alt, und irgendwie merkt man das. Diese Art von Stories wurden deutlich weitergetrieben, übertrieben, heute muss es schon allerärgst und allerlokalkolirisiert hergehen, dass noch ein abgebrühter Krimileser hinter dem Ofen hervorkommt. Nesbo hat natürlich Lokalkolirit in Norwegen, obwohl mir beispielsweise die Beschreibung einer anderen skandinavischen Hauptstadt in Fräulein Smillas Gespür für Schnee weit besser gefallen hat.

Jo Nesbo: Das fünfte Zeichen.

Die Krezn kommt durch

Wortgewaltig kommt er jedenfalls daher, der Grass. Und auch lyrische Einflechtungen bereichern das Buch. Natürlich ist auch der Hintergrund, ausgehend von der Zwischenkriegszeit und noch dazu Danzig, geschichtsträchtig und Grass' Heimat, ein zentrales Element der Blechtrommel. Aber die Trommel selbst, die Geschichten, die sie berichtet, eine absurder als die andere, der kleine Mann im Wortsinn, der sich doch auch irgendwie durchmogelt, einen Haufen interessanter Charaktäre im Schlepptau (die aber selten so gut sind im durchmogeln und eher auf der Strecke bleiben). Grass besucht viele eigene Schauplätze, wechselt aber die Perspektive (auf 94cm, später etwas mehr). Vermutlich sind bei Erscheinen des Siebenhundertseiters die Wogen einigermaßen hochgegangen.

Günter Grass: Die Blechtrommel

Montag, 2. September 2019

Kreist um die Zone, weiß aber nicht, was es will

Da brauche ich garnicht erst nachzusehen. Wer so ein "Sachbuch" schreibt, ist Journalist, ist Journalistin. Offenbar können diese Leute ihren "flotten Schreibstil" nicht ablegen, den es bedarf, im täglichen Kampf um Aufmerksamkeit für sich zu entscheiden, bei einem Buch, wo die Leserin sagt, ja, das lese ich jetzt und höchsten abbricht, wenn es ganz schlecht ist. Man muss bei den vielen geflügelten Worten aufpassen, dass einem das Buch nicht davonfliegt. Die Komposition der Themen, so mancher unnatürliche Übergang, erzeugen ein Fragezeichen: ist das jetzt Lifestyle, Humor oder doch ernste Medizin? Bitte nicht alles zusammen, das kommt nicht. Daneben finde ich übrigens Seite 91 den Begriff "Nullbock-Pisa-Versager-Generation". Mir ist schon klar, dass die Zielgruppe trotz des grellen Covers durchaus die "erwachten Zornröschen" sind, aber sowas geht trotzdem nicht. Nur weil die Pisa-Tests erst Anfang der 2000er Jahre aufgekommen sind, heißt das noch nicht, dass alle, die davor im Schulsystem waren, so viel besser abgeschnitten hätten. Bitte kein Pauschalurteil über die Jugend.

Maria Fangerau: Intimzone.

Montag, 12. August 2019

Nix mit Insel der Seligen

Vermittelt uns "Der Herr der Fliegen", dass unsere "Normalität" mit Regeln und Gesetzen für das Zusammenleben nur gilt, solange alles in einem gewohnten, netten Rahmen abläuft. Anders gefragt: rasten alle aus, wenn der Billa morgen nicht mehr aufsperrt? Gilt dann schnell wieder das Recht des Stärkeren, des Skrupelloseren? Nach Golding nicht gleich. Zu Beginn versucht man noch, kooperativ für alle etwas besseres zu erreichen. Aber wenn es nicht läuft, kommt die Unzufriedenheit, kommt die Zersplittung, kommt der Krieg. Gut erkannt hat Golding auch, dass nicht der Klügste, der Vorausdenken kann (Piggy) zum Anführer gewählt wird, sondern der Starke, Gutaussehende, dem die Problemösung zugetraut wird (ganz egal, ob er dann viel Nachdenken muss). Und die Unzufriedenen warten nur auf ihre Chance. Ich hoffe, wir ersparen uns so ein Szenario, hervorgerufen durch Folgen des Klimawandels beispielsweise. Dann kann die "Insel der Seligen" schnell zu Goldings Insel werden - und wer kommt dann am Schluss, rettet die Meute und sagt: ich hätte doch gedacht, dass eine Bande englischer Jungs in der Lage wäre, etwas besseres aufzuziehen.

William Golding: Herr der Fliegen

Luxus war schon immer anziehend (und ausziehend)

Das mag jetzt, insbesondere im Anschluss an Jean Ziegler vom vorigen Beitrag, etwas unkorrekt klingen. Aber die Welt der Reichen und Schönen, wie sie in De Moor´s "Der Virtuose" dargestellt wird, ist schon anziehend - vor allem so, wie sie gekonnt beschrieben wird. Die offenbar größte Sorge und vordringlichste Aufgabe ist der persönliche Vergnügen, die Unterhaltung, sind Fragen des Stils, sind Klatsch und Tratsch und Befindlichkeiten, ist Luxus. Dass dieser Luxus nur auf Kosten enorm vieler anderer florieren kann, ist auch klar. Sich seinem Gefühlsleben, der Musik so vollends hingeben wie Carlotta, als gäbe es nichts anderes - es macht einfach Spaß, hier als Leser dabei zu sein, so eine Saison lang in Neapel...

Margriet de Moor: Der Virtuose
(Sz-Bibl. Bd.53)

Sonntag, 28. Juli 2019

Das System Ausbeutung seit 500 Jahren

Jean Zieglers Buch "Der Hass auf den Westen" macht, wie ich finde, eine ganz wesentliche Sache klar: auf diesem unseren Planten gibt es zwei Klassen von Menschen, wobei die eine ("Der Westen") der anderen viele Aspekte vom Menschsein abspricht. Dass ein Mensch im globalen Süden weniger Wert ist, wie einer des Westens, ist der rote Faden im Buch. Das wird zuerst beim Thema Kolonialismus klar. Niemand aus dem Westen entschuldigt sie für das, was hier abgegangen ist, obwohl man, wie Ziegler einmal ausführt, den II.Weltkrieg in Zahl der Toten jährlich hereinbringt. Die Pseudofreiheit, die dem Kolonialismus folgte, ist allenfalls ein Feigenblatt, wo man einheimisch-westliche Machthaber hinsetzt. Dass hier wenig Liebe zu den ehemaligen Herren vorhanden ist, darf nicht verwundern. Aber das Gesamtsystem ist ausgeklügelt. Egal was passiert, die Kluft wird nicht kleiner, egal welche Maßnahmen, der Westen schneidet immer mit. Jetzt kommt noch der Klimawandel hinzu, und klar, wen das zuerst und am stärksten betrifft...

Sonntag, 21. Juli 2019

Die Geruchsuhr Modell Grenouille

Das 21.Jahrhundert hat die Dominanz der Wahrnehmung durch Sehen und Hören noch wesentlich verstärkt. Eine Konsequenz dessen, so scheint es, ist, dass die anderen Sinne in den Hintergrund gedrängt werden. Zugleich aber wird der Geruchssinn durch starke, künstliche Gerüche abgestumpft, was zu noch weiterer Reduktion der Wahrnehmungsleistung führt (analog für Schmecken). Und dann haben wir da Jean-Baptiste Grenouille (Patrick Süskinds Das Parfum entsprungen), der riecht vereinfacht gesagt alles und kann über den Geruchssinn alles erkennen. Wie wäre so eine Fähigkeit heutzutage? In der U6 alles andere als lustig, man würde verrückt werden, obwohl Grenouille hat das Paris des 18.Jahrhunderts auch ausgehalten. Und immerhin ist in der U6 Kebap, Leberkässemmel und Pizzaschnitte verboten worden. Im Alltag könnte man erkennen, wer einen anlügt (klar: lügen riecht anders), wer nervös ist, wer gerade mit wem in Verbindung war, was es heute allerorts zu Mittag gab (so haben wir dann die drei genannten, olfaktorischen Spezereien wieder im Odeur der U6). Wäre garnicht so lässig, wenn man von einer Supernase völlig durchschaut wäre. Aber vielleicht kann ja die übernächste Google-Watch "Modell Grenouille" mit Riechsensoren das dann schon, in Verbindung mit Alexa wird das Ding dann frech: "Jetzt mach´ Dich nicht an wegen sowas. Schwitzer! Hey, die heiße Biene da drüben gefällt Dir wohl? Streit es nicht ab. Uh, ertappt, also wenn das ihre Uhr auch riechen kann, wird´s peinlich. Amason-Übertünchungsduft #4711 anwenden, automatische Chatanfrage,..." Umgekehrt kann die heiße Biene stets ihre Wirkung auf die Umgebung checken und bei Spitzenwerten (wo? natürlich in der U6) automatisch ein Update auf Insta hochladen (wo es von NeiderInnen geliked wird). Schöne neue Welt.

Patrick Süskind: Das Parfum.

Mittwoch, 17. Juli 2019

Ich, der Leser

Das ist klar, wenn sich einer sein ganzes Leben lang der Miniaturenmalerei hingibt, dann ist das alles für ihn. Und dass da auch mal ein Mord drinnen ist, wenn es Glaubenskonflikte in alle Richtungen gibt (was darf man, darf man Stil haben, darf man die Perspektive der Franken übernehmen). Als Leser von "Rot ist mein Name" ist die Perspektivfrage geklärt: jede Perspektive ist dem Autor recht. Man hat durch detailreiche Beschreibungen und Dialoge die Möglichkeit, sich in die Welt der osmanischen Miniaturmalerei einzuleben. Heute hat man den Eindruck, dass mehr denn je jegliche Überzeugung mit Geld aufzuwiegen ist. Prinzipien werden locker über Bord geschmissen, wenn der Bakschisch stimmt. Es ist irgendwie langweilig geworden so, oder?

Orhan Pamuk: Rot ist mein Name. (SZ Bibl.Bd.52)

Samstag, 8. Juni 2019

Der Spieler und der Samariter und das Model und und und

Ein bißchen hat der Elsberg schon ein Kochrezept. "Etwas" gerät aus den Fugen und anfangs Unbeteiligte sehen sich auf der Flucht und bedroht. Dazu werden aktuelle Themen aufgeriffen und verarbeitet. Ob der mathematische Beweis eines Gesellschaftsmodell der Kooperation wirklich als so bedrohlich wahrgenommen werden würde, dass man gleich eine Killertruppe in Bewegung setzt? Ein bißerl schwer zu glauben. Die Zeichnungen sind auch witzig (am Anfang zumindest). Trotzdem finde ich diese Vermengung von Action und Tüfteln kurzweilig - und "Gier" ist auch wieder besser als "Helix", wovon ich nicht so begeistert war.

Marc Elsberg: Gier.

Donnerstag, 6. Juni 2019

Und trotzdem: zufrieden

Ich mag Ricardito, die Hauptfigur in "Das böse Mädchen". Von außen betrachtet macht er so ziemlich alles falsch, aber das sieht erselbst nicht so tragisch. Freilich grämt er sich jedes Mal, wenn sein böses Mädchen weg ist. Aber es geht weiter, und selbst gegen Ende, als es ihm schon nicht mehr so gut geht, wirkt er gelassen und in sich gesetzt. Er ist, etwas, das heute abhanden gekommen ist, zufrieden. Das 21.Jahrhundert lebt von der Unzufriedenheit. Keiner würde mehr mit dem bösen Mädchen in einer Wohnung mit geringen Ambitionen glücklich sein. Das ist vermutlich ein Fehler, den wir als Oberflächlichkeit bezeichnen. Wird nicht besser werden, fürchte ich.

Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen.

Donnerstag, 16. Mai 2019

Der neue Mann v2.0

Angelika Hager hat das Buch "Kerls!" vorgelegt, das sich dem Thema "Mann im 21.Jahrhundert" annhähern möchte bzw. am Klappentext sogar als "diskrete Schulungsunterlage für den feministischen Macho" gepriesen wird. Ich glaube, viel vom dem wird ohnehin frommens Wunschdenken bleiben. Zum einen gibt es viel zu wenige Männer, die überhaupt in der Lage sind, diese Ansprüche zu erfüllen. Das führt dazu, dass die Nachfrage nach diesen überbordend wird. Und dann fällt das zurück auf die Frauen, weil was glaubst Du, was für einen Anwert Du (in jeglicher Hinsicht) aufs Tableau legen musst, um da dran zu kommen und ihn auch (be-)halten zu können. Die Frage ist jetzt: wie können sich einigermaßen vernunftsbegabte, aber eben nicht zur Elite der alternativen Wunderfuzzis gehörende Männer einen Weg da durch finden?
Gleich vorweg: es gibt heute ein Portfolio an Regeln (das Wort Mindeststandards liegt da eher zu niedrig angesetzt), die ohne Umschweife einzuhalten sind, korrektes Verhalten, no go´s beachten, althergebrachte Irrtümer ("Wenn eine Frau nein sagt, meint sie ja") über Bord werfen. Das muss in jeder Situation gelten, auch wenn einer in einem Zustand ist, wo er nachher sagen will: eine bsoffene Gschicht. Als nächstes: Verbindlichkeit. Abrücken von diesem "alle Möglichkeiten offen halten", nach "allen Seiten bereit sein". Wenn Euch eine Frau wirklich fasziniert, dann seid nur auf sie fokkussiert, aufmerksam, aber auch nicht schleimerisch. Die restlichen Frauen werden vom v2.0 korrekt behandelt, aber Bevorzugungen und die große Zuvorkommenheit sind nun kein Element des Knigge mehr. Aufmerksamkeit ist ohnehin schon ein knappes Gut und sollte dann nicht breit verschwendet werden. Nicht zu vergessen ist, dass es einen großen Gap zwischen Sein und Schein gibt: die Nettigkeitsfalle. Nette Kerls werden gemocht, aber sie kommen nicht zum Zug. Den will Frau als Freund, aber nicht als Partner. Bei all den Anforderungen muss Mann nicht mitspielen. Es ist ohnehin zielbringender und entspannender authentisch zu sein, Trends und Lifestyles außen vor zu lassen. (Wobei nochmal: haltet Euch verdammt noch mal an die Regeln!)
Die Idee ist, dass der v2.0 wieder etwas vom Gleichgewicht herstellt, das mit den Anforderungen des "neuen Mannes" verlorgen gegangen ist. Mich erinnert das an den Hype-Cycle, was hier derzeit abgeht: der Hype wird nachlassen, und es wird wieder einen Erwartungswert geben, den (relativ) viele erfüllen, der aber trotzdem neu ist gegenüber der Version Mann vor dem neuen Mann v1.0. Da müsst Ihr hin, das ist der Auftrag: korrekt sein, sich trotzdem nicht völlig aufgeben.

Mittwoch, 1. Mai 2019

Wer ist hier verrückt? Besser: wer nicht.

Das Schema ist auch hierzulande nicht unbekannt. Eine äußere Hülle, etwa ein Konzern, wird betrieben, damit sich intern alle nach Möglichkeit bereichern und tun, was sie wollen. Übertreibt man es, geht die Bude vor die Hunde, aber dann sind die Schäfchen im Trockenen, und Schuldige lassen sich nicht genau feststellen. Dass es in Krankenhäusern mitunter drunter und drüber geht, merkt man, ohne ein Interner zu sein. Die Kombination, die vermutlich eher in den USA läuft, nämlich Krankenhaus und Unternehmen mit Melkkuh Versicherungen, ist dann schon spannend. Noch spannender: eine Psychoklinik, Mount Misery. Der Ansatz ist verrückt, und die Leidenssationen von Roy G. Bash werfen die Frage auf, wer hier am verrücktesten ist (doch nicht die Patienten).

Trotz des guten Plots geht dem Buch irgendwie das Geniale von "House of God" ab, warum könnte ich garnicht sagen. Es gibt Skurriles, Heiteres, Komisches und Charaktäre, die sich jeder für sich einen Abschlussapplaus verdient haben. Vielleicht ist es ein bißchen gekünstelt, ein bißchen zu psychisch.

Samuel Shem: Mount Mistery.

Sonntag, 21. April 2019

Geheimniskrämerei auf die Schnelle

Wenn Journalisten ein Buch schreiben, dann ist das so wie... Eine Folge von vielen Quickies, die aber am Ende keine wirkliche Befriedigung bringt. Journalisten sind es gewohnt, schnell zur Sache zu kommen, schnell auf den Punkt, ihnen schwebt das Diktat vor Augen (auch wenn sie es nicht wollen): von vorne kürzbar, den Leser rasch fesseln, die begrenzte Aufmerksamkeit halten. So überladen sie gerne mit Lustigkeiten ("Schmäh" als Wort geht nicht, weil Deutsche), die ja teils wirklich nicht schlecht sind. Aber kaum hat man einen Gedanken zu denken begonnen, beginnt schon das nächste "Kapitel". Auch wenn man 2002 als Maßstab hernimmt (das Buch habe ich aus dem Papiermüll gefischt, ich geb´s zu), finde ich, dass bei vielen Männerthemen zu klischeehaft vorgegangen wurde. Sicher ist die Ambivalenz seither enorm in die Breite gegangen, aber den Bertie von Manta Manta gab es auch damals nicht mehr wirklich. Von den 55 "Geheimnissen" sehe ich mich nur in einigen wenigen repräsentiert, okay, ich bin auch nicht repräsentabel.  Wäre interessant, wenn die Herren ein Buch zum aktuellen Stand schrieben, vielleicht etwas subtiler und auf die Seitenanzahl nur, sagen wir mal, 25 "Geheimnisse". Obwohl, laut Untertitel sind wir ja durch, denn das waren die LETZTEN 55 Geheimnisse.

Harald Braun, Christian Sobiella: Die Verräter. Zwei Männer enthüllen die letzten 55 Geheimnisse ihrer Art.

Samstag, 2. März 2019

Das gewisse Etwas

Jetzt denkt mal eben nach. Wer von Euch kennt eine Holly Golightly? (Oder wer kennt keine) Wie ist so jemand? Selbstbewusst und jung, etwas unstet und sprunghaft, dabei so charmant und schön anzusehen, in der Lage, Männer um den Finger zu wickeln, vor allem in der Zielgruppe mit Geld und vierzig plus. Das sind die Mädchen, von denen man nie meinen sollte, dass sie das "Rote Elend" bekommen, wie es bei Capote heißt. Generell heißt es ja, Selbstbewusstsein sei für den Anwert von Männern überaus wichtig. Aber die Mädels, nach denen alle verrückt, und zwar völlig verrückt sind, die müssen mehr haben, als nur ein hübsches Gesicht. Und Selbstbewusstsein drückt sich ja in jeder Bewegung aus, in jeder Geste, in jedem Wort, in jedem Blick sogar. Aber das Selbstbewusstsein muss natürlich sein, angeboren quasi, und so selbstverständlich wirken, dass man an Widerstand garnicht denken würde. Es gibt nämlich auch die "False-self-confidentness". Selbsternannte Power Frauen, die mit jeder Menge Symbolen (Kleidung, veganenes bio bio Essen, Bildungsstatus) eine leicht agressive Haltung einnehmen: komm mir ja nicht zu nahe. Möglich, dass das garnicht notwendig ist. Und dann steht jemand beim Supermarkt bei der Kassa, äußerlich vielleicht garnicht in der Nähe des Top Models, Waren am Förderband, wo man zunächst sagt, na servus, ein winziges Nasenpiercing dazu - dabei aber eine Haltung, eine Art der Bewegung, eine Selbstverständlichkeit, wo dann die hochgebildete Nachhaltigkeitsperfektionistin unsichtbar wird daneben (und keine Abwehrbereitschaft mehr für Laserblicke haben muss). Das sind die Holly Golightlys von heute, mit Leichtigkeit, elegant.

Truman Capote: Frückstück bei Tiffany. SZ-Bibliothek Bd.51

Montag, 25. Februar 2019

Der mörderische Kreisverkehr

Die Fortsetzung mit Blum, das Totenhaus (von Aichner), beginnt halsbrecherisch, verliert dann zwischendurch etwas an Fahrt. Die Hotelstory dreht sich im Kreis, aber wenn dieser Kreisverkehr verlassen, dann wartet noch ein Schluss mit einer Wendung nach der anderen. Natürlich bleibt der Schluss offen, sodass der Leser bei Totenrausch weiter machen soll. Obwohl ich kein Serienjunkie bin, wäre schon interessant, wie sich das zu einem Happy End ausarbeiten soll, jetzt, wo die Bullen ihre Grabarbeiten aufgenommen haben.

Bernhard Aichner: Totenhaus.

Samstag, 9. Februar 2019

Wer fängt den Fänger?

Das ist schon. Weil warum verlangt man genau dann so viel von jungen Menschen, wenn in ihrem Hirn ein Nebel vorherrscht, der jede Sicht auf jedwelche Dinge trübt und - obgleich jeden Moment rational entscheidend - eben diese Rationalität äußerst wandlungsfähig, ja flexibel ist. Das können dann manche besser. Und Holden Caulfield schlechter. Er merkt sogar, dass es in ihm nicht so toll läuft. Und so setzt er an das Ende der Pencey ein paar Tage Selbstfindung in NY. Bringt ihn das weiter? Von außen gesehen nicht. Die Reaktion seiner Eltern, der Lehrer kann man sich ausrechnen. Aber das ist ja ein grundsätzlicher Fehler der Erfolgsgesellschaft, dass Scheitern nicht als Fortschritt angesehen wird, wobei man ja aus Fehlern oft intensiver lernt, wie wenn alles immer gleich klappt. Vielleicht sollte man von der Vorstellung eines immer konstanten Geistes von einem hoch variablen ausgehen, der manchmal in kürzester Zeit Unfassbares bewältigt, dann wieder in gefühlt ewig nichts. Aber das Schulsystem mit dem fixen Takt in Unterrichtseinheiten, Tagen, Wochen, Semestern mit Noten, Zeugnissen und auf Mittelköpfen ausgerichteten Unterricht, das ist da nicht zu gebrauchen. Ehrlich gemeinte Alteernativen? Nicht in Sicht. Und so wird Holden wieder eine Schule besuchen, bis eben die "blöde Zeit" vorbei ist oder er wirklich abhaut oder es den Eltern zu bunt wird.

J.D. Salinger: Der Fänger im Roggen.

Montag, 7. Januar 2019

Smilla, du coole Gretl

Passend zur Jahreszeit, wenn der Titel schon in sich Schnee trägt, habe ich Peter Hoeg aufgelegt. Es beginnt kurz vor Weihnachten, nicht angenehm, alles nicht angenehm. Und es wird noch kälter, kälter und undurchsichtiger. Und je um eine Gangart härter: auf der Kronos und am Ziel. Smilla ist wirklich eine Spezielle, hat auch schöne Hobbies: Eis, Schnee, Gletscher und ein bißchen Mathematik. Da treffen wir en passent Cantor, Euklid, Fermat, Newton, Dedekind und Russel. Da sind wir Dänen und Grönländer, aber nie beides. Da erinnert der Plot fast ein bißchen an Dan Brown, obwohl: wer war da zuerst! Und eines muss man der Smilla lassen, leidensfähig ist sie, einstecken hat sie gut gelernt. Und das will ja auch gelernt sein. Coole Gretl.

Peter Hoeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee. (Sz-Bibliothek Bd.47)

So, und jetzt glaubst Du das oder nicht. Ich bin durch mit den 50 Bänden der Süddeutschen-Zeitung "Beste Romane des 20.Jahrhunderts". Aber nicht dass Du glaubst, ich hätte nicht damals 51-100 auch nach Hause geschafft. You bet.