Freitag, 30. Dezember 2016

Die Doppelnull in Bild und Wort

Nach zig James Bond Filmen fand ich es rasant an der Zeit, einmal die Romanvorlage von Ian Fleming, erster Teil, erschienen 1953, Casino Royale zur Hand zu nehmen. Dann den Film drauf, den man - auf der Suche nach und in Kenntnis des Romans - mit völlig anderen Augen sieht. Man hat versucht, die Geschichte ins 21. Jahrhundert zu bringen und leinwandtauglich zu machen. Dabei ist den Drehbuchautoren doch allerhand eingefallen, zum Beispiel die Terrorfinanzierung statt der Fünften Kollone. Oder daß Le Chiffre sein Geld mit Leerverkäufen (Stichwort Finanzkrise) verloren hat, nicht mit einem Bordell. Aber ansonsten ist der Film ja völlig mit Action überladen. Und noch mehr Action. Ich habe nachgedacht, aber im Buch hat Bond (!) nicht einen einzigen umgebracht. Weil Le Chiffre von Smersh, die beiden Bulgaren selbst in die Luft gejagt, Vesper eigene Hand. Im Buch hatte man auch Zeit, Baccara zu erklären, im Film mußte Poker herhalten. Genau genommen viel zu kurz kommt die Story im Buch: das sind meistens sehr kurze Szenen, wo beispielsweise Bond mit M. spricht. Und das ist schade, weil Ian Fleming hat seine Reihe als Thriller angelegt, und da ist das Kino meilenweit weg. Nach dem Klamauk der 80er Jahre und den technischen Spielzeugen dominiert die Action und Gewalt. Etwas mehr Thriller würde dem kommenden James Bond vielleicht gut tun.

Zum Schluß der Schluß: Im Buch heißt es "3030 was a double, working for Redland. Yes, dammit, I said 'was'. The bitch is dead now." Und aus. Kein Zeichen mehr danach. Im Film wird dann von der Bemerkung kräftig zurückgerudert. Eben doch eine Nuance mehr Hülle Bond und dafür weniger Innenleben.

Dienstag, 27. Dezember 2016

Göttlich der Brenner

Jetzt natürlich Gefahr, daß ich mich mit Lob für Wolf Haas überschlage, und dann beim nächsten Mal keine Steigerung mehr möglich. Aber "Der Brenner und der Liebe Gott" ist wieder ein Werk in Haas´scher Perfektion, vollendet im Wortgebrauch, vollendet in den Gedanken. Und da wiederhole ich mich jetzt, aber die konkrete Handlung ist dann nicht mehr so zentral, wenn die Freude über Text und Schmäh, über Phrasen und Poesie überwiegt. Das ist auch praktisch für den Haas selber, weil er muß nicht sagen: oje, mir fällt keine Geschichte mehr ein. Allerdings wird der Brenner im Buch immer älter, jetzt schon über fünfzig. Aber Pensionskasse für Detektiv, oder Frühpension, ja was glaubst Du, das gibt es garnicht.

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott.

Krieg in einer nutshell

Ich weiß garnicht, ob so etwas heute noch geschrieben wird. Es erinnert ein bißchen an die Kriegsfilme und Western der 1950er Jahre. Für heutige Verhältnisse geradezu wenig Action und Gewalt, aber dafür Dialoge und Landschaft und Drama und Filmmusik wichtig. Hemingways "For whom the bell tolls" liest sich ein wenig so wie diese Filme. Aber man kippt zusehens in das Buch und die Hinführung zum Finale wird zum Zweck: der Weg ist das Ziel. Innere Monologe begleiten uns, Dialoge und Landschaft, und alles, was an einem Krieg nicht nach Plan abläuft, und das ist nicht weniger als alles, scheint es. Und wo es nach Plan läuft, stellt sich der Plan als falsch heraus. Im Kleinen - 4 Tage, eine handvoll Charaktäre - zeigt sich das Große, Feigheit, Verrat, eigene Interessen, Liebe, Angst, Selbstaufgabe und und und.

Große Literatur, keine Frage.

Ernst Hemingway: For whom the bell tolls.

Montag, 5. Dezember 2016

Alte Kurtologen

Habe ich Euch schon gebeichtet, daß ich in meiner Spätjugend ein Kurtologe war? Für die, die es nicht wissen: ein Kurtologe beschäftigt sich eingehend mit dem Wirken und Schaffen von Kurt Ostbahn und Chefpartie und dann eben Kombo. Im Zuge der Ausübung der K. habe ich selbstverständlich auch die Bücher erworben, die Ostbahnerfinder Brödl verfaßt hat. Das sind handelsübliche österreichische Krimis mit zwei Besonderheiten: erstens Wiener Dialekt und zweitens ist Kurt Ostbahn Hauptdarsteller und ich-Erzähler. Selbst wenn man das wegdividiert, bliebe noch ein durchschnittliches Werk übrig. Jetzt aber, ist es gescheit, das Buch nach zwanzig Jahren just dann wieder in die Hand zu nehmen, wenn man gerade ein Meisterwerk von Haas'schem Zuschnitt intus hat? Am Anfang wirst du sagen, schlechte Idee. Weil die Sätze wirken sperrig, sodaß Du einzelne Wörter im Geiste streichst. Weil wer braucht einen Satz wie:
"Vier Tage lang war der Wickerl dann jedenfalls nicht ansprechbar, war abwechselnd fett, drauf und drüber, und dann plötzlich, am vorletzten Wochenende, hatte er die Erleuchtung."

Wenn´s so auch geht:

"Jetzt war der Wickerl vier Tage fett, nicht ansprechbar. Dann plötzlich Erleuchtung. Ja was glaubst Du."

Die Weisheit vom Doktor ist nett, aber sie löst sich, keinesfalls vergleichbar mit der Brenner'schen, stetig in Alkohol auf. Überhaupt wird in Blutrausch gesoffen, Rauschrausch träfe es besser. Andererseits, Österreich, ist einmal so.

Die Ostbahn Bücher, von denen es auch einen Film gibt, waren eine willkommene Bereicherung für Kurtologen, die heute auch schon allesamt alt sind, dem Idol quasi ins Alter gefolgt. Mich würde nur interessieren, ob es so richtig eingefleischte Kurtologen heute überhaupt noch gibt. Und was die heutigen "Kurtologen" für ein Idol haben? Antwort erbeten!

Freitag, 2. Dezember 2016

Die klassische Brenner-Haas Stil Vollendung

Klassisch kommt von classicus, heißt mustergültig, vorbildhaft bzw. steht auch für einen vollendeten Stil, der dann nicht mehr besser werden kann. Sicher macht die Reihenfolge, in der man die Werke eines Autors liest, im Vergleich zur Entstehungsreihenfolge auch etwas aus. Weil alles nur Wahrnehmungssache. Das Ewige Leben von Wolf Haas, 2003 erschienen, ist, gleichwohl ich noch nicht alle Brenner Bücher gelesen, für mich die Vollendung von Haas´ unerreichtem Schreibstil. Die Verwendung seiner typischen wirtshaussprachlichen Elemente und Satzverkürzungen ist fein abgestimmt und präzise gearbeitet wie in einer Komposition, ja, fast schon wie in einer Syntax.
Jetzt, mit Philosophen hab ich´s nicht so. Weil warum. Ich habe einmal einen gekannt, der hat Philosophie studiert und war aber ein Spinner. Wenn er ein Wirtshausphilosoph gewesen wäre, gerne, danke. Aber auch das nicht. Und der hat mir den Begriff Philosophie gründlich und für viele Jahre verdorben. Aber beim Haas, das ist echt schon philosophisch, wenn er, um die Spannung zu erhöhen, Lebensweisheiten von sich gibt. Und wo man sonst bei einem Autor, der die Action mit überflüssigen Schilderungen über die genaue Oberflächenbeschaffenheit des Schnees hinauszieht, hudlert zu lesen beginnt, wird man beim Haas sofort eingebremst. Zu wertvoll diese Überlegungen, als sie zu überfliegen.
Und das Ende! Als hätte er´s selbst erkannt, der Ich-Erzähler, daß er jetzt die Perfektion seines Stils erreicht hat, wird er auch noch heldenhaft hinweggerafft. Aber nicht daß ihr jetzt glaubt, Erzähler tot, Brenner Bücher letzter Band. Nach sechs Jahren hat sich der Ich-Erzähler von der Reha zurückgemeldet. Und Hydn, Mozart, Beethoven haben auch nicht aufgehört, nachdem sie die Wiener Klassik stilistisch vollendet hatten. Wäre ja auch Blödsinn, wie wenn der Fliesenlegerlehrbube endlich Fliesen legen kann, soll er aufhören.

Dienstag, 29. November 2016

Songlines im 21. Jahrhundert

Der Mensch ist eine wandernde Spezies. Erst die letzten paar tausend Jahre ist er domestiziert worden (oder er hat sich selbst...) Der Körper ist freilich in lächerlichen 100, 200 Generationen noch nicht nachgekommen. Bruce Chatwin singt in seinen Traumpfaden ein Hohes Lied auf die Rastlosigkeit, die Stärke des Beweglichen vor dem Hintergrund von Australien und seiner Ureinwohner zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Der gute Mann hat sicher Recht, aber dennoch muß man den Begriff des Reisens reinterpretieren. Denn heute ist Reisen gleich Urlaub gleich Unterhaltung gleich Konsum gleich einem Element einer globalen Subkultur, gleichauf mit Kleidung, Einrichtung und all den anderen Zeichen, mit denen sich der Einheitsmensch durch Auswahl als etwas Individuelles fühlen soll. Für Reisen im Sinn von Chatwin ist heute keine Zeit mehr, und zudem stammt Travel von travail, lernen wir in diesem Buch, was soviel heißt wie Arbeit, Strapazen, Mühsal, Leiden. In einem Prospekt für die aktuellen Reisetrends machten sich solche Eigenschaften gar nicht gut aus.
Und die Songlines heute? Sind das jene kollektiven Erfahrungen, auf die uns die digitale Medienmaschinerie einlullen will? Denn wie lernt der Aborigine seine Songlines? Hören und Nachsingen. Vielleicht sollte das zu Fuß gehen wieder en vogue werden, Zeit zum Reden und Nachdenken, und für die eigenen Songlines des Lebens.
Chatwins Roman mag für mich, der gerne Handlungen oder Stimmungen in Büchern vorfindet, eher wie ein riesiges Häppchenbuffet wirken - und von Häppchen wird man niemals satt - aber zum Nachdenken regen die vielen Fundorte allemal an.

Bruce Chatwin: Traumpfade. Sz-Bibl.Bd.37

Montag, 21. November 2016

1:0 für den Film durch Hader

Das hat mich gewundert. Oder auch nicht. Weil warum. Den Film "Der Knochenmann" kenne ich, schon zwei Mal gesehen, und das Buch ist mir jetzt untergekommen. Also, genau gesagt, auf einem Flohmarkt wurden drei Wolf Haas Bücher feil geboten, und um zu verhindern, daß sie in falsche Hände gelangen, habe ich gleich alle drei erworben, obwohl ich eines davon schon gelesen hatte. Die Lektüre des Knochenmann wies dann schon anständig Abweichungen auf zum Film. Das ist an sich nichts Neues, aber diesmal ist der Film auch von der Handlung her besser. Das Buch gurkt ein bißchen zu sehr herum, und die Figuren wirken oberflächlich und blaß. Aber der Film lebt von unerreichten Bildern, düster, grimmig, und von ebensolchen Schaustellern - nicht nur, aber eben auch, der Hader. Und der Schmäh im Buch, vielleicht ist man nach ein paar Brenner Büchern auch schon abgebrüht, kann mich diesmal auch nicht durchwegs vom Hocker reißen. Die Anknüpfungen an Vergangenes, z.B. Aktenzeichen XY, kommen mir zu platt daher. Freilich, alles eine gefärbte Wahrnehmung von dem, was man schon kennt vor der Lektüre. Aber für Brenner-Anfänger 1a.

Sonntag, 6. November 2016

Der Pinocchio Effekt des amerikanischen Traumes

Bei der Lektüre von Kafkas Amerika drängte sich mir dasselbe Gefühl auf wie beim Schauen von Pinocchio seinerzeit. Aussichtslosigkeit, Ungerechtigkeit, was gut beginnt, endet noch böser - und ständig unter die Räder kommen, obwohl man guten Glaubens handelt, während andere, weit weniger redliche, Erfolg haben. Am abruptesten kommt die erste Wendung bei Kafka (der Onkel aus Amerika verstößt ihn), aber am intensivsten ist der Rauswurf aus dem Hotel Occidental. Man will garnicht mehr weiterlesen, weil es immer noch ärger kommt, als befürchtet. Kafka scheint darin eine Meisterschaft gefunden zu haben, denn das Adjektiv "kafkaesk" wird nicht selten verwendet, auch hundert Jahre später. Der Schluß ist dann schon mehr absurd und schräg, aber insgesamt ein wirklich herausragendes Werk, nicht umsonst in der SZ-Serie.

Franz Kafka: Amerika. SZ-Bibl. Bd.36

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Das emotionale Kartenhaus

Es ist dieses beklemmende Gefühl, das sie treffend, aber nicht wertend, hervorkehrt. Das Gefühl, daß einer keine Chance hat, und daß es nur schlechter werden kann, daß das wenige, das man geschaffen hat, auch ständig an der Kippe steht. Da ist der farbige Dr.Copeland, der verzweifelt und scheitert an den Erniedrigungen, die er und seine Brüder und Schwestern mitmachen müssen, gipfelnd darin, als sein Sohn im Gefängnis verstümmelt wird. Dann ist da Biff Brannon, Restaurantbesitzer, sein Frau kürzlich verstorben. Aber mit ihr lief es schon lange nur mehr mäßig. Und Jake Blout, cholerischer Außenseiter, ein Wissender, wie er meint, dem Alkohol verfallen. Und Micky Kelly, jung, voller Tatendrang. Ihre innere Welt beginnt zu bröckeln, als sie mit einem älteren Schulkollegen in sommerlicher Idylle das erste Mal erlebt: anstatt rumzuhüpfen vor Freude wie ein junger Gamsbock, sind sie von der eben betriebenen Unzucht so betroffen - Harry haut überhaupt gleich ab. Zerbröckeln tut ihre innere Welt, die Musik, die Pläne dann vollends, als sie einen Job annimmt, die Schule schmeißt. Diese Charaktäre haben aber eine Säule, die sie trägt: Mister Singer. Der Taubstumme versteht alles und noch mehr. Aber auch er ist kein movens moventur. Als seine Stütze, Antonapulus, stirbt, bricht auch Singers Welt zusammen. Und, liebe Leserin, wer ist ihre Stütze? Und worauf stützt er sich ab? Wo ist der Mister Singer, der nicht zusammenbrechen darf?

Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Sz-Bibl. Bd.35

Montag, 19. September 2016

Gut in Wort, schwach in Bild: The Firm

"The Firm" von J.Grisham ist gehört ohne Zweifel zu den besten Werken seines Genre. Alleine die Auswahl der Zutaten und deren Zusammensetzung fasziniert: das Thema Arbeit, Arbeit ohne Ende, 60, 70 Stunden die Woche sind noch garnichts. Die entstehenden Spannungen zwischen zu Hause, der Familie oder Abby, unaufschiebbaren Arbeiten - wir sind doch immer hinten nach - zwischen Geld, Prestige, Gruppenzwang sind schon buchfüllend. Aber schlafraubend (im positiven Sinn) wird das Werk durch seine "Creepiness": Mitchell wird ständig beschattet, abgehört, verfolgt. Gekrönt von einem Katz- und Mausspiel in Panama Beach mit dem Mob und dem FBI, gelingt Mitch die Flucht und Grisham ein Meisterwerk.

Wie lahm nimmt sich dagegen der Film aus! Die Enttäuschung darüber: nichts gegen die Überraschung, wie weit man von der Romanvorlage abgewichen ist. Und wie die es nicht schafften, diese "Creepiness" aus dem Buch zu übersetzen in Bild und Ton. Das Beste hat man unter den Teppich gekehrt, dafür hat man, leinwandtauglich, Mitch´ Geständnis der Cayman-Affäre hinzuerfunden. Und einen anderen Schluß. Abgesehen von Tom Cruise und Gene Hackman war auch die Besetzung untergradig. Und dann das Mercedes Cabrio statt dem schwarzen BMW: oh weia.

John Grisham: The Firm

Freitag, 9. September 2016

Der nette Kerl und sein wildes Buch

Man muß ja auch nicht ständig Actionfilme ansehen. Aber ab und an. Also warum nicht einen Thriller von Dan Brown zur Hand nehmen, wenn er schon rum liegt. Die Zutaten und Machart erinnert an viele andere Bücher, mir fällt da "Der Schwarm" ad hoc ein (von Frank Schätzing). Obwohl für mich eine klare Trennung her gehört zwischen "eben noch irgendwie real vorstellbar" und "science fiction". Bei Meteor sind wir noch knapp im ersteren Bereich, bei der Schwarm knapp drüber. Aber die vielen Detailrecherchen und der Rückgriff auf real mögliche oder vorhandene Elemente sind beiderseits da. Nice fand ich auch die Idee, daß es (zumindest anfangs) bei Meteor Böse vs. Böse hieß (Sexton und die Nasa), wohin gegen der Kopfstand der Story, daß aus dem OH58D am Ende als Oberbösewicht Pickering aussteigt, wäre für meinen Geschmack gar nicht nötig gewesen. Witzig der Buchdeckel, wo ein Bild von Brown abgebildet ist: so ein netter Kerl, man sieht ihm nicht an, daß er solche Bücher schreibt.

Dan Brown: Meteor.

Montag, 5. September 2016

Großer Zirkus

Wie stets holt Irving weit aus. Immerhin gibt es nur eine Hauptperson, Dr.Durawalla nämlich. Aber ansonsten sind wieder etliche weitere da, denen nicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Aber genau das mag ich ja an diesen Geschichten. Auch bei den Themen wird einiges aufgerissen in "A son of the circus", Identitäten, Realität im Wechselspiel mit Fiktionalem, Transgender, Glaube und natürlich der Zirkus. Im Laufe der über achthundert Seiten freundet man sich mit den Gestalten so an, daß einem der Abschied dann fast schon schwer fällt. Da stört auch Durawallas ständiges Geschrei nicht mehr. Auch nicht, daß Handlungsteile mal wieder abreißen und dann - ups, das ist ja auch noch da - wieder aufgegriffen werden. The world according to John I.

John Irving: A son of the circus.

Sonntag, 7. August 2016

Mein Name sei jeden Tag neu, anders

Varianten. Rollen. Perspektiven. Ist Ihr bisheriges Leben eine klare Geschichte, faktenbasiert, oder nur eine Variante von vielen Erzählmöglichkeiten? Tagträumen Sie? Spinnen Sie auch Varianten von unterschiedlichen Verläufen verschiedener Situationen oder Erlebnisse, mit einem Realitätsgehalt der von "quasi real" bis "utopisch mit einigen Merkmalen aus der Realität". Gantenbein, damit es nicht langweilig wird, stellt sich blind, erfolgreich, sogar zu erfolgreich vielleicht. Ich stelle mir vor: Sie stellen sich vor. Ist das sinnlose Tagträumerei, oder hilft es, Dinge zu erkennen, die bisweilen verborgen waren? „‘Ich werde niemand sagen‘, sagt sie, `daß sie nicht blind sind, verlassen Sie sich darauf, und auch Sie sagen niemand, was sie gesehen haben.` Das ist ein Vertrag.“ (S. 257)

Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Sz-Bibl.Bd.32

Samstag, 11. Juni 2016

Im Brackwasser bis zum Hals

Es sind derlei keine einfachen Abschnitte im Leben eines Mannes. Der zweite, wenn die Manneskraft wieder nachläßt und ausgeht, erzeugt bekannte Allüren. Aber der erste ist noch schwieriger. Alles dreht sich, er ist kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann. Wirres vermischen der beiden erzeugte eine große Unsicherheit, die in allen denkbaren Exzessen ausgelebt wird (Allüren sind dagegen nur nette Ausfallschrittchen). Dabei gelangt er unter die Räder, weil gerade in jungen Jahren Männer den Frauen stets unterlegen sind. Junge Männer sind so einfach zu durchschauen und zu steuern, Spielzeug in den Händen gleichaltriger Mädchen. Die Mädchen können wählen und bei Bedarf ihren Radius im Alter ausdehnen. Oder wenn Mädchen stundenlang mit Freundinnen abhängen und reden. Was müssen sich die Burschen da einfallen lassen an Blödsinn. Genau dieses Brackwasser aus Kind sein und Erwachsen sein durchlebt Jack in "Der Zementgarten". Mit der Mutter in Beton im Keller wird der ausgefeilten Darstellung noch ein roter Faden mitgegeben. Eine kräftige Lektüre zu Beginn, am Ende - und dazwischen. Nur nicht untergehen!

Ian McEwan: Der Zementgarten. Sz-Bibl.Bd. 31

Freitag, 3. Juni 2016

Laotisch chaotisch mit Prise Schmäh

Krimis gibt es wie Sand am Meer. Unsere Bibliothek ist halb voll damit, und es quillt und quillt und quillt. Es gibt anscheinend mehrere Zugänge für einen Krimi. Beliebt sind Serien mit vertrauten Gesichtern und neuen. Dann welche mit Lokalkolorit auf österreichisch zum Beispiel. Dann die politischen, die brutalen, die modernen. Die Idee von Cotterill, seinen Helden ins kommunistische Laos von 1976 zu versetzen ist schon mal gut. Daß er dann noch mit über siebzig eine neue Stelle als Pathologe annimmt - fein. Auch die Story ist gut gemacht - bis es dann ab in den Dschungel geht und die übersinnlichen Sachen ins Spiel kommen. Und dann gibt es auch noch (zu) viele "Wohlfühlmomente". Auch der Parallellauf von zwei Verbrechen ist etwas gewöhnungsbedürftig. Aber zumindest kann man nicht sagen, das Buch wäre schmähentleert. Aber ich bin kein Serienfan, also werde ich die bunten Buchrücken mit dem gebückten Siri im Regal lassen.


Collin Cotterill: Dr.Siri und seine Toten.

Donnerstag, 2. Juni 2016

In diesem Treibhaus gedeiht zumindest der Text



Wenn der Anspruch, den ein Buch an einen Leser stellt, auch noch Freude bereitet, dann muß es schon gut gelungen sein; denn seien wir ehrlich: wieviel Spaß macht ein Buch, wo man sich vor lauter Anspruch durchquält, nur um sich zu beweisen, daß man (auch) Anspruchsliteratur verträgt. (Natürlich gibt es inzwischen der zwei Polen endlose Weiten) Nebst ausgefeiltem Wortgebrauch ist auch das Thema des „Treibhauses“ von Koeppen klassisch angelegt und doch nicht allerweltlich. Die Beziehung der Innenwelt eines Menschen, der von Keethenheuve, zur Außenwelt, zu einem Deutschland, das langsam und unter gewaltigem Ächzen nach dem Krieg wieder aufsteht. Wo sich die vorher Etablierten wieder etablieren. Die Gutgläubigkeit und der positive Impuls, den Keethenheuve von Außerhalb mitgebracht hat, verflüchtigt sich da rasch.


Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus. SZ-Bibl. Bd.27

Mittwoch, 4. Mai 2016

Sorgenfrei mit 55

Na gut, das ist jetzt vielleicht nicht die hohe Anspruchsliteratur. Aber wie sooft bin ich darüber gestolpert, angelesen und kleben geblieben. Man sollte ja nicht glauben, daß man ein Buch zu Ende liest, in dem einmal, ganz a la Rosamunde Pichler (!) alle Probleme des täglichen Lebens gelöst sind (alle sind einmal grundsätzlich reich oder sehr reich, keiner muß überlegen, wie er oder sie die Miete nächstes Monat bestreiten wird). Gut, andererseits im Sinne eines Eskapismus geht das ja noch. Aber das die Erzählfigur dann auch noch derart unbescheiden auftritt (und sie ist gewiß ein Spiegelbild der Autorin - Alter, Wohnort Paris raushängen lassen, Homöopathie) und wirklich keine Schwächen hat, das ist dann doch zu viel. Andererseits tritt das Buch auch noch als Ratgeber auf, betrachtet man die Rückseite, und die Zielklientel wird da sehr klar.

Mittwoch, 24. Februar 2016

Laurids lieber langsam lesen

Welche Herangehensweise haben Sie an Bücher? Lesen Sie zuerst den Klappentext, das "what´s it all about". Oder wollen Sie unvorgefaßt den Weg selbst beschreiten, ohne Einsager, worauf Sie achten sollen. Und dann gehen Sie los. Worauf schauen Sie zuerst? Sie wollen wissen, worum es hier eigentlich geht. Ich zumindest will das immer. Je nach Buch eröffnet sich das sehr rasch, nach einigen Seiten ist man im Weingarten des Textes angekommen, und man kann sich neben dem Weg und dem Ziel auch auf die Trauben stürzen. Was aber, wenn Sie vor lauter Trauben keinen Weg sehen, wenn Sie umher irren, ziellos und überall sind Trauben und noch mehr Trauben. Sie süßesten, die man sich vorstellen kann. Was tun Sie? Naschen Sie drauf los und lassen Sie sich gehen? Klettern Sie auf einen Hügel um doch endlich die Übersicht zu erhaschen? Ich gehöre leider zu den Lesern, die recht lange wissen wollen, worum es hier geht. Da sind schon sehr viele Trauben vorüber, bis ich anfange, sie zu pflücken. Oft denke ich nach so einer Lektüre, man sollte den Anfang noch mal lesen, um sich auch da an den vielen reichen Stellen zu delektieren.

Aktuell griff ich zu Rilkes Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", und mit dem Namen "Rilke" als Lyriker im Hinterkopf war ich gespannt und auch vorgewarnt. Ohne Klappentext las ich den Text, der zwar exzellent geschrieben ist, sodaß man die irrwitzigsten Ideen doch gut lesbar vorfindet und keine Ausrede hat, das Buch lese sich nicht gut (was bei manchen Übersetzungen durchaus wirklich mühselig ist). Trotzdem gerät man ob der Formulierungen, des Wortgebrauches und der Kraft der Aussagen außer Atem, die obigen Weintrauben quellen einem aus dem Mund, wieder und wieder. Und daneben weiß man nicht, ist das jetzt eine Kritik an der hektischen Zeit am Beginn des 20. Jahrhunderts, oder ein Aufrollen seiner Kindheit, schrullig und rückwärts gewandt. Mir gelang die Lösung letztlich nur mit Geduld, und um mich zu bremsen, begann ich, Teile mir selbst vorzulesen und diese Wunderwerke auch zu hören. Und hier zeigt sich wieder einmal, daß der Weg das Ziel ist. Und wenn ich an die diversen Schnelllesebücher denke, die ich auch schon verspeiste, dann ist das definitv ein Langsamlesebuch.

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. SZ-Bibl. Band 26

Montag, 15. Februar 2016

Zu schnell: der quasiintellektuelle Killer mit Rechenschwäche

Herr Nesbo hat ein paar sehr nette Ideen in sein Buch verpackt. Aber leider fehlte ihm entweder die Muße und Zeit, sie ausgiebig auszuführen, oder sein Verleger hat ihm geraten, ein Schnelllesebuch zu schreiben, weil die sich schnell und gut verkaufen, derzeit.

Daß der Killer nicht ausschließlich ein roher Mensch ist, sondern immer wieder Geistesblitze hat (wie es in einem Buch heißt. In welchem, weiß er nicht mehr), daß er eine Rechenschwäche hat (Leichen zählen ist dem Gewerbe ohnehin abträglich), oder der Fischgestank beim Fischer: all das hätte man auf locker der doppelten Seitenzahl ausbreiten können. Und vor allem die taubstumme Marie versus der abgebrühten Corina. Aber das Buch hat trotzdem viel Vergnügen gemacht (ein kurzes eben), und gekrönt von einem unerwarteten Schluß werde ich bei Appetit auf Schnelllesen wieder mal zu Nesbo greifen.

Jo Nesbo: Blood on snow. Der Auftrag.

Montag, 8. Februar 2016

Den Horizont erweitert man nicht mit Bekanntem

Er ist, so verrät der Buchumschlag, immerhin Literaturnobelpreisträger, und ja, die Art, wie er schreibt - gehen wir einmal von einer glaubhaften Übersetzung aus - ist jedenfalls eigen, originell. Auch die Stimmung jener Zeit, der 1930er Jahre in den USA, fängt Faulkner gut ein. Sofern, in beiden Fällen, ich das beurteilen kann. Sich solche Figuren ausdenken, einen Popeye, einen Horace Benbow. Allerdings besteht die Gefahr, daß man auf der Jagd nach der Handlung das Drumherum etwas übereilt überliest. Veilleicht kann ich deshalb nicht sagen, es wäre ein Roman, den ich gleich nochmals lesen sollte. Anders ist er jedenfalls, und scharf, nein: schärfst kontrastierend zu jenen Schnelllesebüchern, die heute in der Krimilandschaft üblich sind. Bleibt: den Horizont erweitert man nicht mit Bekanntem.

William Faulkner: Die Freistatt. SZ-Bibliothek Band 25.