Donnerstag, 30. Dezember 2021

Killer ist die Struktur

 "Erschlagen von den vielen Plot-Twists liegt der Leser besinnungslos oder gar schon entseelt da". Sonst mögen wir ja abgeschlossene Gebilde (Vektorräume, algebraische Strukturen), aus denen man nicht rauskommt und wo einem die Elemente wohl geläufig sind. Das ist mit der Insel Runa (Rona) fix gegeben. Das ist sogar ein recht kleiner Vektorraum,1,1km2. Aber das Ende, da rotiert der Plot, ständig ändert sich nochmal alles oder fast alles.

Simon Beckett: Kalte Asche

Dienstag, 28. Dezember 2021

Karten

Er zeichnet gerne Karten. Von seiner Heimatregion, davon wie sie vielleicht mit dem sprachlichen Mutterland vereinbart wird, auch, damit er die Übersicht hält. Aber hält er, Askar, die Übersicht über die Menschen und Beziehungen zu ihnen? Hat er dafür eine Karte gezeichnet? Wie die Landkarte durch den Krieg verändert wird (und dann wieder zurückverändert), so macht auch die Karte in Askars Herzen Änderungen durch. Misra ist immer wichtig auf seiner Karte, aber wo und wie nah sie ist, und was zwischen ihn und sie passt, ist veränderlich. Dabei ist das ganz natürlich: wir alle machen solche Änderungen durch und positionieren die Menschen immer aufs Neue, fügen welche hinzu, rücken von welchen ab. Ganz abgesehen davon, haben auch diese Menschen wieder Karten von ihrem Herzen, aber ganz andere. Und während der eine die andere ganz nah sieht, ist er für sie gefühlt am anderen Ende der Welt. So, als ob man das Treibholz auf einem Fluß kartografieren wollte.

Nurruddin Farah: Maps.
Sz-Bibliothek Bd.66

Samstag, 18. September 2021

Klassenlektüre für die Zukunft

 Nach der Lektüre der drei Vanitas Bände von Ursula Poznanski ist mir dann noch "Cryptos" von derselben Autorin in die Hände gefallen. Der längere Teil, das Herumwandern durch die Welten, wo eigentlich wenig Neues passiert, erinnert ein bißchen an die Phasen von Carolin Bauer, Springer, König, wo sie endlos die Nachbarwohnung beschattet, am Zentralfriedhof auf und ab marschiert oder mit dem Handy von Boris durch die Gegend zieht und Dialoge führt. (Wobei: gegen die Gammelfahrt des Boots ist das immer noch kurzlebig). Normal mag ich solche Buchstellen, wo mal nichts weitergeht, aber hier bei Cryptos war das ein wenig wie im Katalog blättern, mal bei Hosen, dann bei Spielzeug, dann bei Möbeln - am Ende bleibt nichts in Erinnerung.

Was aber in Erinnerung bleibt, sind zwei Ideen, die wirklich spannend sind, und die gleich am Beginn und ganz am Ende vorgestellt werden. Das eine ist das Abtauchen in virtuelle Welten, weil diese viel besser sind, als die Realität. Gut, die Anzüge mit den Masken fehlen noch, aber die Kids von heute tauchen auch anständig ab und leben (auch) in dieser digitalen Parallelwelt. Fünf Stunden Handynutzung am Tag sind nichts besonderes, manche bringen es auf acht. Ist das vielleicht am Ende, aller Unkenrufe von erzürnten Bildungsbürgern zum Trotz, gar nicht so schlecht? In Poznanskis Zukunft ist die Realität realita nicht mehr erträglich, aber wie toll ist denn oftmals die Realität für Kids von heute?

Das andere ist der Klimawandel, die Erderwärmung und die "Minus 3 Lösung", die letztlich meint, drei der zehn Milliarden Menschen müssten weg. Per Zufallsgenerator! Wie passend! Und schmerzfrei! Weil die Ressourcen nicht ausreichen, sagen die "Alphas". Das würden auch die Westeuropäer und Nordamerikaner sagen (Alphas), und der Zufallsgenerator nimmt ja im Buch die Alphas aus, denn die brauchen wir ja, um die Welt zu lenken, zu regieren. Dabei müsste der Zufallsgenerator, wenn er nach CO2-Fussabdruck geht, sogar eher Treffer bei den Alphas landen.

Ich finde, dieses Buch ist hervorragend als Klassenlektüre für Schüler*innen geeignet, da diese beiden Themen sehr virulent und zugleich spannend sind. Außerdem betreffen beide, virutelle Welten und Klimawandel, die Kids von heute künftig sehr. Und heute über morgen nachdenken kann ja nicht schaden.


Freitag, 6. August 2021

Leicht und herzlich geht es weiter

 Wenn man ein Buch liest und sagt, dass ist einmal erfrischend anders, unaufgeregt aber, keinesfalls gekünstelt aufgemacht und stimmig bis zum Schluss: dann geht das leicht von statten. Zwei sehr junge Menschen, ein Paar, beide hübsch, finden sich in mitten einer verrückten Zeit. Keine aufdringlichen Plot-Twists oder dramatische Szenen verwässern die herzliche Erzählung. Man liest die Briefe, als wären sie immer an einen selbst gerichtet. Da können die Knacker (die alten) machen, was sie sollen, anschaffen, was geht, aber diese Leichtigkeit der Jugend kriegen sie um keinen Preis für sich.


Colette: Mitsou

Bd.65 SZ-Bibliothek

Mittwoch, 21. Juli 2021

Leichter Sommerwind sorgenfrei

 Dass man eine leichte Sommergeschichte auch nicht langweilig erzählen kann, zeicht und Kurtens Tucholsky mit Gripsholm. Genau wie er sagt, ist man nur 140 Seiten da, und man lacht über alles, auch über kleine Unanehmlichkeiten. Daneben kann man noch konstenlos Lydias Sprache, so'n Plattgemisch, lernen. Die Sorgen wegens einer großen, bedeutungsschweren Handlung brauchen wir uns nicht machen. Eher sind wir wieder am Rückweg. Und Billie, die ist schon länger weg, bleibt zugleich zurück, so wie es ein Kollege von mir einmal ähnlich ausdrückte: was in [Schweden] war, bleibt in [Schweden].

Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm. Sz-Bd.64

Sonntag, 13. Juni 2021

Magic Cleaning auch im Kopf?

Ich mag Ratgeberliteratur nicht besonders. Es ist kochrezeptartig und oft nach dem selben Strickmuster geschrieben ("Glaubenssätze,...") Warum ich z.B. Magic Cleaning gelesen habe? Es war in der Bibliothek meines Vertrauens vorrätig, ich war neugierig und die 40 Cent Gebühren kann man schon riskieren. Außerdem kann man auch ex negativo lernen. Ist aber hier garnicht notwendig. Frau Kondo ist ein bißchen (aufräum-)verrückt, und ein bißchen verrückt schadet bekanntlich nicht. Ich habe die Methode noch nicht ausprobiert, aber zumindest in Ansätzen werde ich das noch. Jetzt könnte man die Methode auch umlegen auf unser Kopfleben, auf unser soziales Leben. Ein bißchen wie die "Beziehungsklärerin". Mal sehen:

Aufräumfeiertag: wir sortieren unser Leben nicht täglich neu, sondern machen einen Ratzebutz-Tag. Dazu müssen wir alle Personen versammeln, die wir kennen. Wir beginnen mit der einfachsten Kategorie. Bekannte von Früher (aus vergangenen Kontexten), die wir ohnehin nicht oft sehen (vgl. saisonale Kleidung). Jeden Bekannten müssen wir berühren und feststellen, ob er uns glücklich macht. Falls nein, bedanken wir uns bei ihm (falls es eine Fehlentscheidung war, ihn überhaupt als Bekannten zu haben, dann bedanken wir uns, dass wir durch ihn lernen durften, welchen Charakter wir nicht mögen). Danach sortieren wir ihn aus (bedeutet heuzutage: Löschen aus dem Handyadressbuch sowie aus allen social Media Kanälen). Problem: was, wenn der eine oder andere Bekannte nicht kommen will (vielleicht hat er uns auch schon aussortiert). Frau Kondo weiß hier nicht weiter, aber vielleicht schauen wir uns (gemeinsame) Fotos an, lesen SMS und Chats und entscheiden dann. Schwieriger wird es mit der Kategorie "Arbeitskollegen". Die wird man schon nicht mehr so leicht los, notfalls Jobwechsel? Richtig schwer sind Nachbarn auszusortieren. Pflanzen wir da eine meterhohe Hecke? Zu bedenken ist auch, warum wir den Kontakt aufrecht erhalten. Liegt es daran, dass wir die Vergangenheit nicht loslassen können? Oder ist es Zukunftsangst: vielleicht brauchen wir den ja noch irgendwann mal Frau Kondo: "Irgendwann kommt nie". Mörderisch schwierig wird die Verwandtschaft. Eigentlich kann man sie nur schwer ganz los werden, aber es geht, sofern man bei Zwangstreffen den anderen ignoriert. Frau Kondo warnt auch davor, dass man nicht mehr benötigte Dinge jemanden aus der Verwandtschaft schenkt, nur damit man es nicht selbst wegwerfen muss. Sprich, die Schwester soll den Kontakt halten, falls ich einmal etwas brauche. Geht garnicht, sagt die Kondo. Wir sehen: Magic Cleaning räumt auch Dein Leben auf, und das Instagram-Wischen dauert nur mehr sehr kurz. Ach so, jetzt weißt Du nicht, was Du mit der gewonnenen Zeit anfängst? Oh nein, nicht, sag nicht, neue Bekanntschaften... Das ist ja, wie wenn die Kondo mit der Shoppen geht, nachdem sie Dein halbes Hab und Gut auf den Müll geschmissen hat. Obacht!

 Marie Kondo: Magic Cleaning.

 


Samstag, 12. Juni 2021

Der lineare Abstieg

 Eine lineare Handlung in einem Buch, wo es ohne Plot-Twists und allen übrigen kleinen Tricks, die heute so en vogue sind (auch der Plot-Twist vom Plot-Twist) hergeht, stellt man sich langweilig vor. Aber die Wahrheit liegt da viel näher dran, als an konstruierten Achterbahnfahrten, an Auf- und Abs. Auch ohne die Lektüre von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" weiß man schon ungefähr, in welche Richtung (bergag) es geht, wenn man mal den Drogen zuspricht. Aber der gnadenlose Verlauf, den es nimmt, wenn man erst einmal auf H. eingelenkt hat, ist schon monströs. Es geht in schrittweise, aber monoton abwärts. Die Stadien kennt man von der Scene, auch den Entzug, der aber nur eine Plattform, wo es eben geht, ist, nie geht es jemals bergauf. In der Scene ist man dann auch zu Hause, obwohl es nicht so richtig harmonisch abgeht, aber was hat man sonst? Wo endet der lineare Abstieg? Der endet lange nicht, denn der Mensch hält viel aus, und er fällt auch tief. Jedes Mittel ist recht, um die vierzig Mark für ein halbes Halbes zu beschaffen. Für manche endet es mit dem Goldenen. Andere wursteln sich durch, kommen aber nie mehr richtig los.

Jetzt ist die H.-Welle schon eine zeitlang her, und man liest nicht mehr täglich darüber. Aber sind die Leute wirklich psychisch robuster geworden? Wohl kaum, aber die Mittel wurden weiterentwickelt, Psychopharmaka machen einen längst nicht so schnell alle wie H. Und, ist das besser? Ja.

Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo